• Roma in Europa

Polen

Polen war für Rom_nija immer ein wichtiges Transitland zwischen Ost- und Westeuropa. Sie kamen aus Ungarn, der Walachei, Moldawien und Transsylvanien. Aufgrund massiver Verfolgungen flüchteten Rom_nija bereits im 16. Jahrhundert von Deutschland nach Polen. Auch nach Abschaffung der Sklaverei in Moldau und der Walachei (19. Jahrhundert) wanderten Kalderasch und Lovara nach Polen aus.

Ab dem 16. Jahrhundert erlaubten die polnischen Könige, dass einzelne größere Roma-Gruppen Könige aus ihren Reihen wählten. Diese waren u.a. für die Steuereintreibung verantwortlich. Als Polen 1918 unabhängig wurde, erinnerte man sich an diese Tradition. Ein König aus der Gruppe der Kalderasch sollte von allen Rom_nija als König und Autorität angesehen werden.

Am 1. September 1939 begann mit dem Einmarsch und der Besetzung Polens durch Hitlerdeutschland der 2. Weltkrieg. Wie auch in Deutschland wurden in Polen Konzentrations-, Arbeits- und Vernichtungslager errichtet: In Auschwitz, Sobibor, Belzec, Treblinka, uvm. wurden Millionen von Juden und Jüdinnen, Rom_nija und Sinti_zze aus ganz Europa systematisch ermordet.

Die größte Romagruppe sind die Polska Rom_nija (Tiefland Rom_nija), die bis in die 1960er Jahre noch auf Wanderschaft gingen, heute leben sie meist in Kleinstädten. Die Karpaten-Rom_nija wohnen im Süden des Landes. Die Kalderasch und die Lovara leben in Großstädten. Die russischen Rom_nija (Khaladytka) wohnen in kleineren Städten und Dörfern im Osten des Landes. In Westpolen leben Sinti_zze, in Warschau die Bareforytka (Hauptstadt-Rom_nija). (Verdorfer, 1995, S. 34)

In den 1980er Jahren migrierten Gruppen nach Deutschland und Schweden.

Schätzungen über die Anzahl der in Polen lebenden Rom_nija schwanken zwischen 15.000 und 50.000 Personen. Die polnische Verfassung enthält Anti-Diskriminierungsvorschriften, und rassistisch motivierte Gewalt kann gemäß dem polnischen Strafrecht mit bis zu 5 Jahren Haft bestraft werden. Diese Gesetze kommen jedoch kaum zur Anwendung. Es gibt zahlreiche Berichte über Angriffe auf Romasiedlungen. Rom_nija sind auch den Übergriffen von Mitarbeitern privater Sicherheitsdienste ausgeliefert, die von Bars und Restaurants angeheuert werden und Anfang der 2000er für mindestens 2 Todesfälle verantwortlich waren.

2018 erschien ein Interview mit einem Roma-Aktivist des Verbandes der Roma in Polen, Wladyslaw Kwiatkowski, der die Situation der Rom_nija in Polen schildert:

Der Verband der Roma in Polen hat seinen Sitz in Oświęcim nahe Auschwitz-Birkenau, wo Nazi-Deutschland mehr als eine Million Menschen ermordete. Im DW-Interview fordert Sprecher Wladyslaw Kwiatkowski mehr Bildung.

DW: Wie viele Roma leben heute in Polen und wie ist ihre Situation?

Wladyslaw Kwiatkowski: Heute sind es vielleicht 25.000 bis 30.000 Menschen. Die Situation hat sich zwar seit einigen Jahren verbessert, aber es gibt noch immer eine große Diskriminierung - nicht hier in Oświęcim, das ist Auschwitz, hierher kommen viele Menschen. Aber in anderen Städten wie Kattowitz, Zabrze, Poznań, da gibt es große Probleme zwischen Roma und anderen Polen. In der kleinen Stadt Andrychów ganz in der Nähe gibt es Probleme. Die Geschäftsleute sagen: "Du bist Roma, du darfst nicht rein." Auch bei der Wohnungssuche werden die Angehörigen der Minderheit diskriminiert. Das ist nur 30 Kilometer von hier. Unsere Organisation hat interveniert und jetzt wird es etwas besser.

In Deutschland wissen viele nicht Bescheid über den Völkermord an den Sinti und Roma. Wie ist das in Polen?

In Polen ist es auch so, dass viele sagen: "Holocaust an den Roma? Nein." Aber an den Roma gab es auch einen Holocaust, vergleichbar mit dem Holocaust an den Juden. Bei den Juden sprechen wir von der Shoah, bei den Roma vom Porajmos, das heißt: Das Verschlingen.

Unsere Organisation hat jetzt mit dem Bildungsminister ein Programm vereinbart, damit das Thema in den Schulen behandelt wird. Wenn die Kinder etwas über die Shoah lernen, lernen sie auch etwas über den Porajmos. Es gibt leider nur noch wenige Überlebende, die davon berichten können.

In der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 wurden die letzten 2900 Häftlinge - überwiegend Kinder, deren Mütter und alte Menschen - aus dem sogenannten "Zigeunerlager" in Auschwitz-Birkenau ermordet. Wie organisieren Sie das Gedenken?

Wir organisieren das gemeinsam mit dem Verband deutscher Sinti und Roma in Heidelberg - seit mehr als zwei Jahrzehnten. Am 1. August gehen wir an die Stelle, wo das Krematorium Nummer 5 stand, am 2. August versammeln wir uns alle zum Gedenken im ehemaligen "Zigeunerlager" in Auschwitz-Birkenau. Die Teilnehmer kommen aus Polen, Deutschland, Österreich, den Niederlanden, Frankreich, aus vielen europäischen Ländern.

Welche Veränderungen wünschen Sie sich, damit es den Roma in Polen heute besser geht?

Das ist eine gute Frage. Wir äußern uns nicht politisch. Aber das Allerwichtigste ist bessere Bildung: Bildung für Polen, Bildung für polnische Roma - für alle, die hier leben, damit uns das Zusammenleben gelingt.

Wladyslaw Kwiatkowski arbeitet wie sein Vater Roman Kwiatkowski beim Verband der Roma in Polen in Oświęcim. Die Kwiatkowskis haben während der NS-Verfolgung über 100 Verwandte verloren: in verschiedenen Konzentrationslagern, bei Erschießungen und Todesmärschen.[1]

Rom_nija sind in Polen eine anerkannte Minderheit und es gibt mittlerweile auch eine gut vernetze Roma-Bewegung, die sich gegen Diskriminierung und für eine Verbesserung der Lebensumstände einsetzt:

Heute entwickelt sich die Roma-Bewegung in Polen beständig weiter. Die gesellschaftlichen Eliten der Rom_nja haben sich organisiert und treten selbstbewusst und konsequent für die Belange der Minderheit ein, sowohl was die Lebensbedingungen als auch was die gesellschaftliche Teilhabe angeht.

Nach wie vor allerdings sind die Entfaltung der Roma-Kultur sowie die Integration und der Aufstieg der Roma-Intellektuellen in Polen von negativen sozioökonomischen Prozessen begleitet. Exklusion und Marginalisierung sind nicht überwunden, ebenso wenig Stereotype und Vorurteile, und die Zahl der Gewalttaten und Fälle von Hate Speech gegen Rom_nja hat sogar zugenommen. Unter allen ethnischen und nationalen Minderheiten in Polen befinden sich die Rom_nja auch heute in der verletzlichsten Position. Die Wortführer_innen und Aktivist_innen der Rom_nja versuchen diese Probleme zu lösen.[2]

Weiterführende Links zum Thema:

https://www.bpb.de/internationales/europa/sinti-und-roma-in-europa/197233/die-polnischen-roma-zwischen-tradition-und-aufbruch-wie-sollt-ihr-leben-hier-auf-dieser-welt

https://www.sintiundroma.org/de/voelkermord-in-europa/polen/

https://www.owep.de/artikel/347-roma-in-polen

https://www.derstandard.at/story/2000042102843/nationalsozialismus-gedenkstein-fuer-oesterreichische-roma-in-polen

https://www.gfbv.de/de/news/roma-in-polen-165/

 

[1] https://www.dw.com/de/probleme-zwischen-roma-und-anderen-polen/a-43247989

[2] https://www.romarchive.eu/de/roma-civil-rights-movement/roma-movement-poland/

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