• Roma in Europa

Ungarn

Rom_nija scheinen in Ungarn bereits im 14. Jahrhundert in Dokumenten auf. Im Zuge der osmanischen Eroberungen waren wahrscheinlich vermehrt Roma nach Ungarn gekommen. Sie wurden als Schmiede und Soldaten eingesetzt. Die einzelnen Gruppen konnten sich selbst verwalten. Mehrere Herrscher waren ihnen wohl gesonnen. Unter Maria Theresia begann die Zwangsassimilierung und Sesshaftmachung.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert war die Politik gegenüber den Rom_nija durch verschiedene Repressionen gekennzeichnet. 1944/45 wurden an die 30.000 Rom_nija und Sinti_zze deportiert - manche von ihnen nach Auschwitz.

Im kommunistischen Ungarn versuchte man durch ein spezielles Programm die wirtschaftliche, soziale und Bildungssituation zu verbessern.

Die nach dem Fall des Kommunismus in Ungarn durchgeführte Landreform brachte den 800.000 dort lebenden Rom_nija nichts. Keine einzige Familie der ehemaligen Taglöhner erhielt Land zugewiesen. Viele ungarische Rom_nija leben unter dem staatlich festgesetzten Existenzminimum. Tausende von ihnen wohnen am Stadtrand von Budapest in Wohnungen ohne fließendes Wasser und Strom. Rund 10.000 verdienen ihr Brot noch als Musiker.

Die ungarischen Roma gehören je nach Dialekt oder einstiger beruflicher Beschäftigung unterschiedlichen Gruppen an (Lowara - Pferdehändler, Colara - Teppichhändler, Fodozovo - Schmiede, uvm.) (Verdorfer, 1995, S.34)

Die offiziellen ungarischen Stellen gehen von 190.046 Rom_nija aus. Roma-Organisationen und Menschenrechtsgruppen schätzen ihre Anzahl aber eher auf 550.000 bis 600.000 Personen. Wie viele Rom_nija es auch sein mögen, sie gelten allgemein als die größte Minderheit Ungarns. Das Gesetz über die Rechte Nationaler und Ethnischer Minderheiten aus dem Jahre 1993 erkannte die Rom_nija als Minderheit an und gewährte ihnen eine politische Vertretung und eine Form kultureller Autonomie mit spezieller staatlicher Finanzierung für lokale Minderheitenvertretungen. Es gibt in Ungarn aber kein eigenes Antidiskriminierungsgesetz, und Segregation wird von Gesetzes wegen nicht als Diskriminierung betrachtet. Das ungarische Arbeitsrecht enthält spezifische Antidiskriminierungsvorschriften, ebenso wie das Beschäftigungsgesetz von 1991. Die Arbeitslosigkeitsrate unter den ungarischen Roma liegt für Männer bei geschätzten 60% - 80%, für Frauen bei 35% - 40%. Im Jahr 1999 beschloss die ungarische Regierung ein mittelfristiges Maßnahmenpaket, das eine Verbesserung der Situation der ungarischen Rom_nija zum Ziel hat. Rom_nija wird in Ungarn oft der gleichberechtigte Zugang zum Bildungssystem verwehrt. Sie können von Nicht-Roma-Kindern in derselben Schule separiert werden und werden viel öfter als Nicht-Roma-Kinder in Sonderschulen für geistig Behinderte eingewiesen. In einigen Gegenden Ungarns machen Romakinder bis zu 90% der Sonderschulkinder aus. Zu Beginn der 1990er Jahre wurde von engagierten Erziehern ein neuer Ansatz zur Schaffung von Alternativschulen und anderen Unterrichtsformen vorgeschlagen, in deren Folge spezielle Kindergärten (im Bezirk Cspel in Budapest), Volksschulen (Kedves Ház in Nyirtelek, die Regenbogen-Schule in Martfu und die Burattino-Schule und Hort in Budapest) und Berufschulen (die Roma Chance Alternative Berufschule in Szolnok, die Don Bosco Volks- und Berufschule in Kazincbarcika und die Kályi Jág Minderheitenberufschule) gegründet wurden.

Ungarn entsendete 2004 als erster Staat zwei Romnija als Abgeordnete in das Europäische Parlament.

Nach dem Regierungswechsel in Ungarn, wird von der Regierung Viktor Orbáns Rom_nija feindliche Politik betrieben, wie die sukzessive Beschneidung der Roma-Projekten in ihren Möglichkeiten. Selbst Vorzeigeprojekte wie das Gandhi-Gymnasium in Pécs und weitere 35 Roma-Stiftungen droht permanent die Schließung, aufgrund fehlender staatlicher Unterstützung.

Der Vorsitzende der antiziganistischen und antisemitischen paramilitärischen ungarischen Garde, Gabór Vona, sieht das zentrale Probleme in seinem Land bei den Roma. Die ungarische Garde die gerne die Fahne der Pfeilkreuzler, der ungarischen Nationalsozialisten trägt, präsentieren demonstrativ ihren Hass gegen Rom_nija bei Protestmärschen durch Romasiedlungen.

Seit 2008 kommt es auch vermehrt zu Übergriffen auf Rom_nija, bei welchen mittlerweile mindestens 8 Rom_nija ums Leben gekommen sind. NGO's berichten von mindestens 42 Gewaltverbrechen gegen Rom*nija in Ungarn in den letzten Jahren seit Beginn des 21. Jahrhunderts.    

Programm für Wohnungsbau und soziale Integration

Ziel dieses Programms ist, die Trennung in Wohngebieten zu beenden und die soziale Integration von Rom_nija durch eine Verbesserung der Lebenssituation voranzutreiben, die Unterschiede im Bildungssystem zu überwinden und die Situation am Arbeitsmarkt für Rom_nija zu verbessern. Dies wird durch die Errichtung von Hausprojekten realisiert; der Roma Education Fund förderte gleichzeitig zu dem Wohnprogramm in den gleichen Orten die Bildung der Roma, dies führte teilweise zu einem beachtlichen Fortschritt. Eine neue Studie zeigt, dass die Wohnsituation verbessert werden konnte. Es besteht jedoch nach wie vor besteht großer Bedarf in den Bereichen Bildung und Beschäftigung der Rom_nija.

 

Tagung zum Internationalen Rom*nija-Tag in Oberwart 2020:

Bei der Tagung, die von der Roma VHS Burgenland veranstaltet wurde, diskutierten Experten und Expertinnen über das Thema „Gewalt gegen Roma: Rezeption und Umgang mit einem europäischen Problem“. Unter ihnen waren die ungarische Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovsky und der Ungarn-Experte Stephan Ozsváth. Der Tagungsbericht von 2020 fasst deren Vorträge zusammen und berichtet über die bedrückende Situation der Rom_nija in Ungarn:

Ungarn sieht sich als weiß, echte Magyaren sind weiß und christlich. Roma und Romnija sind dunkel, arm und fallen vor allem durch ihr sogenanntes „Zigeunertum“ auf. All dies sind Eigenschaften, die nicht in diese weiße Utopie passen, die man sich in Ungarn schon seit Jahren versucht aufzubauen, darin sind sich beide Vortragenden einig.

Antiziganismus ist ein struktureller Hass, der Roma und Romnija betrifft. Der Begriff hat sich in den 1980er Jahren in Anlehung an den Antisemitismus entwickelt, um aufzuzeigen, dass auch dieser Rassismus strukturell ist. Ziganismus sei, laut der Publiszistin und Kulturwissenschaftlerin, Magdalena Marsovszy, der Versuch dem Individum die Individualiät und Selbstdefinition abzusprechen. Dem Individium werden meist stereotype Eigenschaften einer ganzen Gruppe angehängt, dies passiert rein über Fremdzuschreibung und -definition. So sprechen viele in Ungarn noch von einem sogenannten „Zigeunertum“, dem bestimmte Eigenschaften zuzurechnen sind, und jeder mit entsprechender ethnischer Abstammung hat genau diese vorbestimmten und stereotypen Eigenschaften. So kann man als Rom oder Romni gar nicht anders als z.B. kriminell zu werden – das sind Ansichten, die wir noch aus der Zeit des Nationalsozialismus kennen.

Mindestens 5.000 Rom_nija und Sinti_zze wurden in Ungarn während des Nationalsozialismus ermordet, keiner der überlebenden Roma und Sinti erhielt Reparationsleistungen. Der Grundkonsens in Ungarn lautet: „Der Staat meint es ja gut mit den Zigeunern, sie vermeheren sich aber zu stark“, so Marsovszky.

In den 1970er Jahren waren laut einer Erhebung 75%  der Ungarn antiziganistisch eingestellt. Diese Einstellung wurde von der Regierung gefördert und geschürt. Bis in die 1980er Jahre gab es staatlich angeordnete Zwangswaschungen, Desifizierungen, Entlausungen – betroffen davon waren fast ausschließlich Rom_nija. Es war ebenfalls in  den 1970ern, dass Soziologen „kritisch“ versuchten, den Ursachen für die Armut auf den Grund zu gehen. Sie fanden diese vor allem in den Romasiedlungen. Damals entstand ein sogenanntes „Racial Profiling“, eine Methode, die bis heute angewendet wird. Um festzumachen wer Rom oder Romni ist bzw. wieviele Rom_nija in Ungarn leben, wurde nicht nach der einigen Identität der Rom_nija selbst gefragt sondern festgestellt, wer „zigeunerisch“ aussah oder von anderen als „Zigeuner“ empfunden wurde. Diese Menschen galten dann per Fremddefintion als Rom oder Romni. Diese Methode wird bis heute in Ungarn nicht hinterfragt und weiterhin angewendet, schildert Marsovszky.

Ein weiterer Diskriminierungsfaktor ist der Zugang zum Arbeitsmarkt: Nach der Wende in Ungarn bekamen Roma und Romnija nur noch minderwertige Arbeiten zugeteilt und 80% wurden entlassen. Seitdem ist die Arbeitssituation prekär und der Rassismus nimmt weiterhin zu, auch auf Regierungsebene und in öffentlich-rechtlichen Medien.

Nach der Wende, das heißt in den 1990ern, folgte eine weitere Erhebung: 86% der Bevölkerung Ungarns ist zu diesem Zeitpunkt antiziganistisch eingestellt. Im Jahr 2000 mussten 47 Roma und Romnija aufgrund des zunehmenden Hasses, Morddrohungen und der Ausgrenzung fliehen. In den folgenden Jahren flüchteten noch weitere vor staatliche Repressionen, vor allem nach Kanada, wo sie politisches Asyl erhielten.

2007 wurde in Ungarn eine paramilitärischen Garde gegen „Zigeunerkriminalität“ gegründet und maschierte von da an regelmäßig in Romasiedlungen auf, um die dort lebenden Menschen einzuschüchtern. Mittlerweile ist diese Garde zwar offiziell verboten, aber andere ähnliche Gruppierungen maschieren immer wieder auf, verbreiten Hass und bedrohen Roma und Romnija.  2008/2009 gipfelte der sich immer weiter zuspitzende Antiziganismus in einer rassistisch motivierten Mordserie: 6 Menschen werden ermordet, darunter ein Kind. Erst 2013 werden die Täter verurteilt. Dies hat vor allem damit zu tun, dass Mitglieder des Notdienstes sowie Politzisten die Spuren verwischten. Besonders perfide: Ein Polizist uriniert auf die Fußspuren eines Mörders und macht diese somit unkenntlich. All dies war ein weiterer Ausdruck dafür, wie tief der Rassismus und Hass gegenüber den Rom_nija in der Bevölkerung  saß, denn auch die ungarische Gesellschaft reagierte gleichgültig.

Es gab zwar danach Gedenkveranstaltungen und Dokumentationen über die Ermordung, jedoch entstand nicht der Eindruck, dass die Gesellschaft dadurch aufgerüttelt wurde.

Magdalena Marsovszky, die sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit vor allem auch dem Antisemitismus und Antiziganismus, widmet erklärt drei Faktoren für die Ursachen von Antiziganismus in Ungarn:  

1. Die Regierung agiert völkisch und dies ist im Grundgesetz seit  dem 1.1.2012 verankert: Das heißt, die Regierung strebt ethnische Homogenität an, wodurch der Rassismus quasi staatlich gefördert wird. Denn weiß sind nur die Magyaren, Rom_nija und Jüdinnen und Juden gehören nicht dazu.

2. Typisch im völkischen Denken ist, dass zwar Roma als Angehörige einer Minderheit deklariert werden – ein Recht auf Schutz im Sinne des Minderheitengesetzes haben aber nur Ungarn die im Ausland leben und dort somit der Minderheit (der Magyaren) angehören. Es gilt nicht für Rom_nija im eigenen Land.

3. Die ungarische Gesellschaft ist eine auf Arbeit basierte Leistungsgesellschaft. Es gilt ein hoher Arbeitsethos und dies bedeutet im Umkehrschluss, dass Arbeitslose keinen Wert in dieser Gesellschaft haben. Rom_nija haben aufgrund der rassistischen Sanktionen oft keine Chance einer Arbeit nachzugehen, somit werden sie als minderwertig betrachtet. 

All dies sind Themen, die in den von der EU geförderten Romastrategien verbessert werden sollen: Jedes EU Land war bis 2020 dazu verpflichtet für eine Verbesserung des Lebensstandards der Rom_nija und Sinti_zze im eigenen Land zu sorgen. Dies vor allem was den Zugang zum Arbeitsmarkt und die Bildungssituation betrifft, aber auch den Abbau von Stereotypen. In Ungarn hingegen sah man die Vorgabe eher als eine Art Aufholstrategie für die Rom_nija selbst verantwortlich wären: Rom_nija sollen aufholen und sich somit der Mehrheitsgesellschaft annähern. Es findet eine ganz klare Täter-Opfer-Umkehr statt: Den Rom_nija wird die Schuld an ihrer Situation gegeben und wieder finden sich als Ursache für ihre Lage, Begrifflichkeiten wie „Romaangelegenheiten“ und „Probleme des Zigeunertums“. Die von der EU gezahlten Förderungen kommen zudem oft erst gar nicht bei den Bedürftigen an.  Die Regierung Orbáns treibt diese Segregation nur weiter voran. Rom_nija leben teilweise immer noch in Ghettos ohne fließendes Wasser und ohne Kanalisation. Sozialbeihilfe, Familienbeihilfe oder Kindergeld sind oft den weißen christlichen Familien vorbehalten, zu denen, wie schon erwähnt die Rom_nija in Ungarn nicht zählen. Man kann hier von einer eugenisch und darwinistisch orientierten Gesellschaft und Regierung sprechen, so Marsovszky.

Auch der Journalist Stephan Ozsváth schilderte dasselbe Bild von Ungarn und nannte ebenso den Aufmarsch der „Garde“, die rassistisch motivierten Morde und das Leben der Rom_nija in den Ghettos als Beispiele für den strukturellen Rassismus in Ungarn. Er berichtete noch von einem weiteren Beispiel aus dem ungarischen Ort Gyöngyöspata im Norden Ungarns. Hier wurden 60 Romakinder in der örtlichen Grundschule von den anderen Kindern getrennt und diskriminiert. Sie durften keine der öffentlichen Toiletten benutzen und wurden vom Schwimmunterricht ausgeschlossen. Auch im Unterricht selbst wurden sie diskriminiert, da sie nicht dasselbe Maß an Bildung erhielten wie die anderen Kinder. Die schlechte Schulbildung hatte nachhaltige negative Konsequenzen für den weiteren Weg der jungen Menschen, die somit eine noch geringere Chance am Arbeitsmarkt hatten. Eine Klage wurde eingereicht und der Oberste Gerichtshof gab den Rom_nija recht und verurteilte den Staat dazu Schadensersatz zu leisten. Doch dies schien die Regierung – allen voran Viktor Orbán – wenig zu interessieren, im Gegenteil er hetzte noch gegen die Rom_ nija und warf mit rassistischen Parolen um sich: „Alle müssen hart für ihr Geld arbeiten, aber die ‚Zigeuner‘ kommen ohne Arbeit an ihr Geld!“, und er verwies auf das Geburtsrecht der Ungarn, dass nicht für Rom_nija gelten würde, schildert Ozsváth.

Und genau das ist bezeichnend für Ungarn: Die Rom_nija werden, obwohl sie ebenso Ungarn sind wie alle anderen auch, zum Fremdkörper gemacht. Ihnen werden ihre grundlegenden Bürgerrechte abgesprochen und sie werden zum Menschen zweiter Klasse gemacht. Der Staat hetzt gegen sie, die Medien propagieren es und die Gesellschaft glaubt es. Man kommt nicht umhin auch hier wieder einen Vergleich zum Nationalsozialismus zu ziehen. 2022 findet die nächste Wahl in Ungarn statt, bis dahin befürchtet man, dass sich die Situation der Rom_nija weiterhin verschlechtern wird. Viktor Orbán wird wieder Sündenböcke für seine Wahlparolen brauchen. 

 

Wie in vielen anderen europäischen Ländern werden Rom_nija als Bürger zweiter Klasse behandelt und sehen sich mit Rassismus, Antiziganismus und Gewalt konfrontiert. Hier einige Artikel zum Thema:

 

https://de.wikipedia.org/wiki/Roma_in_Ungarn

https://zentralrat.sintiundroma.de/jara-kehl-zur-aktuellen-situation-der-roma-in-ungarn/

https://www.deutschlandfunkkultur.de/ungarn-wir-roma-sind-nur-buerger-zweiter-klasse-100.html

https://www.mdr.de/nachrichten/welt/osteuropa/politik/ungarn-rassismus-roma-schadenersatz-100.html