Bei der Volkszählung des Jahres 1991 bekannten sich in Montenegro 3.282 Personen als Rom_nija. Viele Roma ließen sich auch als Albaner, Muslime oder Jugoslawen registrieren. Menschenrechtsorganisationen schätzen die Zahl der in Montenegro lebenden Rom_nija auf 20.000 bis 28.000 Personen, von denen mindestens 7.000 in und um die Hauptstadt Podgorica leben und in kleineren Gruppen rund um die Städte Niksic, Ivangrad, Bar, Tivat und Herceg Novi.
Obwohl die montenegrinische Verfassung den Schutz "der nationalen, ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Identität" von nationalen und ethnischen Minderheiten garantiert und die Rom_nija auch als "nationale Minderheit" anerkennt, besitzen zahlreiche montenegrinische Roma nicht die Staatsbürgerschaft, meist weil ihnen die notwendigen Dokumente fehlen, um ihre Ansässigkeit in Montenegro nachzuweisen. Da nur wenige Romakinder die Grundschule abschließen, ist der Anteil von Romakindern in Sekundarschulen sehr gering. Obwohl der Grundschulbesuch in Montenegro verpflichtend ist, beharren die montenegrinischen Behörden gegenüber Rom_nija nicht auf die Einhaltung dieser Vorschrift. Unabhängige Beobachter schätzen, dass rund 80% der montenegrinischen Rom_nija ihre Grundschulausbildung nicht abschließen. Die Mehrheit der Rom_nija ist arbeitslos. Jene, die Arbeit haben, sind meist als Straßenkehrer oder Landarbeiter beschäftigt. Einige Rom_nija betreiben in kleinem Umfang Handel mit verschiedenen Gütern. Berichten zufolge haben im Jahre 1995 mehrere hundert Nicht-Rom_nija die gesamte Roma-Bevölkerung der Stadt Danilovgrad im Südosten des Landes vertrieben und ihre Siedlung in Flammen gesteckt.
Eines der größten Lager in denen zahlreiche Roma-Familien leben ist Konik. Es steht exemplarisch für die Lage der Rom_nija in vielen Ländern des Südosteneuropas. Sie wurden an den Rand der Gesellschaft in eine Art Ghetto geschoben und dort vergessen:
Die vergessenen Flüchtlinge Südosteuropas: Roma-Familien in Konik
Von Bianca Kaltschmitt
Göttingen, Bozen, 24. Januar 2013
In der Nähe einer Mülldeponie am Rand von Podgorica, der Hauptstadt Montenegros, liegt Konik, das Viertel der vergessenen Flüchtlinge. Der Stadtteil gilt als sozialer Brennpunkt, die Kriminalitätsrate und die Arbeitslosigkeit sind besonders hoch. Viele verbinden mit diesem Viertel Drogen, Prostitution und Perspektivlosigkeit. Hier wohnen sozial benachteiligte Menschen, serbische und bosnische Flüchtlinge sowie viele Roma, die 1999 aus dem Kosovo geflüchtet sind, nachdem Albaner ihre Häuser geplündert, zerstört oder selbst in Besitz genommen haben. Seit nunmehr 13 Jahren leben sie in Podgorica in den Flüchtlingslagern Konik I und Konik II in einfachen, selbstgezimmerten Holzbaracken mit Blechdächern. Oft tropft es bei Regen durch die Dächer, im Winter schneit es in einige hinein. Es zieht durch die Ritzen der Behausungen. Leicht brechen im Sommer Feuer aus. Im Juli 2012 gab es in Konik I am frühen Morgen einen besonders verheerenden Großbrand. Innerhalb von Minuten standen 43 Holzbaracken in Flammen, etwa 800 Menschen verloren ihr Obdach. Die Bewohner konnten nur wenige Besitztümer retten, da sich das Feuer aufgrund der Trockenheit und der leicht brennbaren Unterkünfte schnell ausgebreitet hatte.
Die Roma, die vor wenigen Jahren im Kosovo schon alles aufgeben mussten, müssen nun wieder bei Null anfangen. Da sie auch Kochutensilien, Nahrungsmittel und andere Habseligkeiten verloren haben, sorgte die deutsche Hilfsorganisation Help - Hilfe zur Selbsthilfe mehrere Wochen lang mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Botschaft in Montenegro für ein warmes Mittagsessen. Helfer vom Internationalen Roten Kreuz errichteten als Ersatzunterkünfte Zelte. Für den Winter wurden Container aufgestellt. Für das Nötigste ist gesorgt, die seelischen Narben indes sind noch nicht verheilt. Viele Kinder haben seit dem Brand Alpträume, als sie so plötzlich aus dem Schlaf gerissen wurden und sich in Sicherheit bringen mussten. Sie mussten mit ansehen, wie die wenigen Habseligkeiten verbrannten und sie alles verloren.
Keine Arbeit, keine Bildung
Viele Roma flohen ohne offizielle Papiere aus dem Kosovo. Sie können deshalb keinen legalen Aufenthaltsstatus in Montenegro bekommen und somit auch nicht arbeiten. Sie leben von dem, was sie im Müll finden. Sie suchen vor allem nach Metall oder anderen verwertbaren Materialien, die sie weiterverkaufen können. Für Kinder und Jugendliche gibt es kaum Perspektiven. Nur wenige gehen zur Schule, denn auch dort werden sie diskriminiert und ausgegrenzt. Viele junge Menschen brechen die Schule ab. Die Mädchen werden von Kindheit an auf Familie, Kinder und Haushalt vorbereitet und heiraten schon früh, nicht selten mit 13 oder 14 Jahren.
Träume und Hoffnung trotz Perspektivlosigkeit
An diesem scheinbar trostlosen Ort gibt es aber doch Hoffnung und manchmal auch Perspektiven. Als Mitarbeiter von Help erfuhren wir von den Träumen der Jugendlichen. Ein Junge will Schuldirektor werden, ein anderer am liebsten Fußballprofi. Leyla, 15 Jahre, möchte zur Schule gehen und träumt auch schon mal davon, Topmodel zu werden. Sie bekommt derzeit Nachhilfe von Help. Ihre Mutter ist alleinerziehend, der Vater vor einigen Jahren an den Folgen einer Diabetes gestorben. Wir treffen Mädchen wie die elfjährige Melinda und Leontina, zehn Jahre, die aus Deutschland „zurückkamen“ und hier nun nicht mehr die Schule besuchen.
In Konik leben viele junge Roma wie der 25-jährige Redjep, der in Deutschland aufgewachsen und dennoch abgeschoben worden sind. Redjep ist damals im Alter von elf Monaten mit seiner Familie nach Deutschland geflüchtet. Die Familie integrierte sich, Mutter und Vater arbeiteten, alle Kinder gingen zur Schule. Sie wurden als Asylbewerber anerkannt und doch nach abgelaufener Duldung 2003 abgeschoben, erzählt Redjebs Mutter Sultana mit feuchten Augen. Und plötzlich war Redjep an einem Ort, den er nicht kannte, und sollte eine Sprache sprechen, die er nie gelernt hat. Aber er ließ sich nicht entmutigen und verarbeitete die „Entwurzelung“ mit der Produktion von deutschsprachigem Hip-Hop. Redjep leitet jetzt mit Unterstützung von Help Breakdance- und Hip-Hop-Workshops, um die Jugendlichen in Konik von der Straße zu holen und ihnen eine Perspektive aufzuzeigen. Bei Hip-Hop und Breakdance vergessen die jungen Menschen zeitweise ihre sozialen Probleme in dem sonst so trostlosen Alltag, erhalten Anerkennung und können ihr Selbstwertgefühl steigern.
Wie sieht die Zukunft aus?
Die Übergangszelte und Container in Konik sollen 2013 [Anm.: Stand des Artikels] durch Häuser ersetzt werden. Doch Hilfe zu leisten ist hier gar nicht so einfach. Die Mittel der Hilfsorganisationen, die sich um eine Verbesserung der Lebensumstände für die 1.500 Menschen in den Flüchtlingslagern engagieren, sind begrenzt. Help - Hilfe zur Selbsthilfe ist die einzige deutsche Organisation vor Ort. Sie finanziert ihre Arbeit derzeit ausschließlich mit öffentlichen Geldern von der EU und der Deutschen Botschaft in Montenegro. Für Roma wird nur selten gespendet. Auch die Öffentlichkeitsarbeit gestaltet sich schwierig, da tief verwurzelte Vorurteile gegen die Roma immer noch präsent sind. Im Mittelpunkt der Projekte steht die nachhaltige Verbesserung der Situation der Roma, vor allem in den Bereichen Wohnungsbau und soziale Komponenten wie die Integration von Kindern und Jugendlichen, Zugang zu Bildung und Einkommen schaffende Maßnahmen. Aber das sind nur kleine Schritte für die vielen Familien. Der Staat und die Gesellschaft Montenegros aber auch die EU sind gefragt, mehr tätig zu werden und nicht die Augen vor der miserablen Lage der Flüchtlinge zu verschließen.[1]
Weiterführende Links:
https://www.help-ev.de/laender/montenegro/fluechtlinge-in-konik
https://www.deutschlandfunk.de/roma-in-montenegro-deutschland-wird-hier-ueberall-als-das-100.html
https://www.help-ev.de/fileadmin/media/Factsheets/Factsheet_Upcycling_Montenegro_21012019.pdf
[1] http://www.gfbv.it/3dossier/sinti-rom/montenegro.html