"In meiner Kindheit", erzählt ein Rom, "gab es bei uns einen Brauch, der es verlangte, dass den Toten, wenn sie aufgebahrt waren, Münzen auf die Augen gelegt wurden. Wir waren damals noch klein. Wir wussten nicht, weshalb das geschah. Also fragten wir die Erwachsenen, doch jeder erzählte uns etwas ein wenig anderes..."
... und es gab keine Bücher, in denen man nachblättern konnte. Bis vor wenigen Jahren wurde nämlich alles, was man als Rom/Romni wissen musste, von Generation zu Generation mündlich weitergegeben. Die Erwachsenen erzählten den Kindern, und diese erzählten später ihren Kindern und Enkeln weiter, was sie gehört hatten: Wie sich die Roma die Welt vorstellen, wie sie leben sollen, wovor sie sich fürchten müssen und was ihnen Freude bereitet. Es waren vor allem die Großeltern, die ihre Enkelkinder in das Leben der Roma einweihten und ihnen alles Notwendige beibrachten.
In den Konzentrationslagern sind hunderttausende Roma ermordet worden. Mit ihnen ist der Faden des Erzählens und Überlieferns gerissen, der über Jahrhunderte die jüngste Generation mit ihren Vorfahren verbunden hat. Die wenigen, die überlebt haben, wollten lange Zeit nicht von ihren schrecklichen Erfahrungen berichten. Erst in den letzten Jahren haben manche von ihnen darüber zu sprechen begonnen, was sie im Lager erlebt haben. Ihr Wunsch, und der von vielen Jungen, ist es, die Überlieferung der Roma zumindest schriftlich zu bewahren und alle Märchen, Geschichten und Erzählungen zu sammeln, die noch nicht vergessen sind.
In den Märchen muss sich immer wieder ein armer Rom gegen den mächtigen "Beng", den Teufel, behaupten, der es auf ihn abgesehen hat. Mit Klugheit und mit unerschütterlichem Selbstvertrauen schafft der Rom es immer wieder, den "Beng" zu überlisten. Die Märchen der Roma handeln auch von Königen und Königstöchtern, von Drachen, Tieren und verwunschenen Seelen, und nicht selten begegnen uns Figuren, die es in den Märchen der Gadsche gibt.
Viele weitere Geschichten kommen uns phantastisch vor. In ihnen ist die Rede von Hexen und von unheimlichen Begebenheiten.
Aus den Erzählungen erfährt man vom schweren Leben, das Roma hatten, von den fürchterlichen Jahren im Lager und den mühseligen danach. Sie zeigen, was Überlebenswille bedeuten und ausrichten kann und, dass allen Schicksalsschlägen zum Trotz die Roma das Lachen nicht verlernt haben.
Ob sich die Enden des gerissenen Fadens irgendwann wieder zusammenfügen lassen? Viel Neues ist einzuflechten, doch nicht alles Alte ist verloren ...
... denn selbst, wenn dieser uralte Brauch heute nicht mehr ausgeübt wird - sein Sinn ist nicht in Vergessenheit geraten: Man legte den Toten Münzen auf die Augen, damit sie in der "anderen Welt", wie die Roma das Jenseits nennen, sich zu Essen kaufen konnten und nicht hungern mussten.
© Michael Wogg