Nicht rechtsverbindliche Arbeitsdefinition des Begriffs Antiziganismus
Am 8.Oktober 2020 veröffentlichte die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA, dt. internationale Allianz zum Holocaustgedenken) eine „nicht rechtsverbindliche Arbeitsdefinition des Begriffs Antiziganismus“. 2016 wurde eine Arbeitsdefinition zum Antisemitismus veröffentlicht. Die Allianz besteht aus 34 Ländern, einem Partnerland und sieben Beobachterstaaten und hat sich zum Ziel gesetzt, die Aufklärung, Forschung und die Erinnerungsarbeit den Holocaust betreffend weltweit zu fördern. Die Schwerpunkte, der 1998 gegründeten Organisation, liegen somit in den Bereichen Kampf gegen Antisemitismus und Holocaustleugnung, Forschung, Bildung und Gedenken. Im Jahr 2007 setzte man einen weiteren Schwerpunkt mit der Aufarbeitung des Völkermords an Roma und Sinti im Zweiten Weltkrieg. Im Jahr 2020 wurde die Arbeitsdefinition zum Antiziganismus veröffentlicht, die wie folgt lautet:
„Mit Sorge zur Kenntnis nehmend, dass die mangelnde Anerkennung des Völkermords an den Sinti und Roma zu den Vorurteilen und zur Diskriminierung beigetragen hat, unter denen viele Gemeinschaften der Sinti und Roma[1] heute noch leiden, sowie unter Annahme unserer Verantwortung, solchen Formen von Rassismus und Diskriminierung entgegenzutreten (Artikel 4 und 7 der IHRA Ministererklärung von 2020 sowie Artikel 3 der Erklärung von Stockholm), verabschiedet die IHRA die folgende Arbeitsdefinition des Begriffs Antiziganismus:
Antiziganismus manifestiert sich in individuellen Äußerungen und Handlungen sowie
institutionellen Politiken und Verfahren der Marginalisierung, Ausgrenzung, physischen Gewalt, Herabwürdigung von Kultur und Lebensweise der Sinti und Roma sowie Hassreden, die gegen Sinti und Roma sowie andere Einzelpersonen oder Gruppen gerichtet sind, die zur Zeit des Nationalsozialismus und noch heute als „Zigeuner“ wahrgenommen, stigmatisiert oder verfolgt wurden bzw. werden. Dies führt dazu, dass Sinti und Roma als eine Gruppe vermeintlich Fremder behandelt werden, und ihnen eine Reihe negativer Stereotypen und verzerrter Darstellungen zugeordnet wird, die eine bestimmte Form des Rassismus darstellen.
Als Leitfaden für die Arbeit der IHRA wird Folgendes anerkannt:
Antiziganismus gibt es seit Jahrhunderten. Er war ein zentrales Element der gegen Sinti und Roma gerichteten Verfolgungs- und Vernichtungspolitik, wie sie vom nationalsozialistischen Deutschland sowie von denjenigen faschistischen und extrem nationalistischen Partnern und anderen Mittätern, die sich an diesen Verbrechen beteiligten, betrieben wurde. Antiziganismus hat weder mit der NS Zeit begonnen noch danach aufgehört, sondern ist weiterhin ein zentrales Element von gegen Sinti und Roma begangenen Verbrechen. Trotz der bedeutenden Arbeit der Vereinten Nationen, der Europäischen Union, des Europarates, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und anderer internationaler Gremien sind die Stereotypen und Vorurteile in Bezug auf Sinti und Roma bis heute weder delegitimiert noch hinreichend energisch diskreditiert worden, so dass sie fortbestehen und weitgehend kritiklos angewendet werden können.
Antiziganismus ist ein facettenreiches Phänomen, das auf breite gesellschaftliche und politische Akzeptanz stößt. Er behindert maßgeblich die Integration der Sinti und Roma in die Gesamtgesellschaft und trägt dazu bei, dass es für Sinti und Roma keine Rechts- und Chancengleichheit gibt und dass sie nicht gleichberechtigt am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben sowie am Arbeitsmarkt teilhaben können.
Es gäbe zahlreiche Beispiele zur Veranschaulichung des Antiziganismus. Antiziganismus könnte unter Berücksichtigung der Gesamtsituation aktuell folgende Formen annehmen, wobei hier kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird:
- Verzerrte Darstellung oder Leugnung der Verfolgung von Sinti und Roma oder des
Völkermords an ihnen
- Glorifizierung des Völkermords an den Sinti und Roma
- Anstiftung zu Gewalt gegen Gemeinschaften der Sinti und Roma, ihr Eigentum oder
gegen einzelne Sinti und Roma sowie Ausübung und Rechtfertigung dieser Gewalt
- Zwangssterilisierung und andere Arten der körperlichen oder seelischen Misshandlung von Sinti und Roma
- Aufrechterhaltung und Bekräftigung diskriminierender Stereotypen in Bezug auf Sinti und Roma Schuldzuweisungen gegenüber Sinti und Roma und Hetze gegen sie wegen tatsächlicher oder wahrgenommener Probleme in den Bereichen Gesellschaft, Politik, Kultur, Wirtschaft und öffentliche Gesundheit
- Stereotypisierung von Sinti und Roma als verbrechensaffine Menschen
- Verwendung des Begriffs „Zigeuner“ als Beleidigung
- Billigung von oder Ermunterung zu Mechanismen der Ausgrenzung gegen Sinti und Roma auf der Grundlage rassendiskriminierender Annahmen, etwa Verwehren der
Möglichkeit des Besuchs von Regelschulen oder Ausschluss von institutionellen
Verfahren oder Maßnahmen mit dem Ergebnis einer Segregation der Gemeinschaften der Sinti und Roma
- Erlassen von Vorschriften ohne Rechtsgrundlage oder Schaffung der Voraussetzungen für die willkürliche oder diskriminierende Verbringung von Gemeinschaften der Sinti und Roma sowie von einzelnen Sinti und Roma
- Kollektive Haftbarmachung aller Sinti und Roma für die tatsächlichen oder wahrgenommenen Handlungen einzelner Mitglieder von Gemeinschaften der Sinti und Roma
- Verbreitung jedweder Form von Hetze gegen Gemeinschaften der Sinti und Roma, etwa in den Medien und auch im Internet und in den sozialen Netzwerken“
Die Definition soll die IHRA in ihren Forschungsschwerpunkten unterstützen aber auch Politiker, Medien, Menschenrechtsorganisationen und die zivile Gesellschaft für die Thematik sensibilisieren. Sie kann auch dazu beitragen, dass antiziganistische Vorfälle besser identifiziert und verfolgt werden können. Gerade das Jahr 2020, als während der Corona-Pandemie in vielen europäischen Ländern der Antiziganismus und die rassistischen Übergriffe auf Roma und Sinti angestiegen sind, zeigten die Dringlichkeit einer solchen Definition auf.
"Ich freue mich sehr, dass wir heute gemeinsam Maßnahmen ergriffen haben, um diesem Übel entgegenzutreten", sagte IHRA-Vorsitzende Michaela Küchler (Deutschland). "Unsere Arbeitsdefinition wird uns ein wichtiges Instrument bieten, um die steigende Flut der Anti-Roma-Stimmung anzugehen und die historischen Aufzeichnungen der Verbrechen von Nazideutschland und seinen Mitarbeitern zu schützen."[2]
[1] Der Begriff „Sinti und Roma“ wird als Oberbegriff für verschiedene verwandte sesshafte oder nicht sesshafte Gruppen verwendet, etwa Roma, Travellers, Gens du voyage, resandefolket/de resande, Sinti, Camminanti, Manouches, Kalé, Romanichels, Boyash/Rudari, Aschkali, Ägypter, Jenische, Dom, Lom und Abdal, die sich in Kultur und Lebenswandel unterscheiden können. Es handelt sich hierbei um eine erklärende Fußnote, nicht um eine Definition des Begriffs „Sinti und Roma“.
[2] Quelle: https://www.holocaustremembrance.com/news-archive/ihras-34-member-countries-adopt-working-definition-antigypsyismanti-roma